„Wer nicht hören will, muss fühlen!“ höre ich von einer Teilnehmerin beim Mittagessen, nachdem ich auf die Frage einer anderen geantwortet habe, wie es meinem Knie geht und was das Laufen macht. Stimmt. Und zwar nicht in dem Sinne, dass ich nicht auf die Ratschläge von Physios, Ärzten oder sonstigen vermeintlichen Ratgebern hörte und auf die symbolische heiße Herdplatte fasse, um ein richtiges Verhalten zu lernen. Sondern vielmehr: ich habe meinem Körper lange und zu oft zu wenig zugehört. Ich habe die leisen Signale überhört. So schrie er immer lauter, und so musste ich es irgendwann durch Schmerzen fühlen, was er mir eigentlich die ganze Zeit schon sagen wollte: Ruh. Dich. Aus.
Pause? Ich doch nicht. Ich bin doch Ultra-Anke.
Was war passiert? Ich bin im Januar 2024 meinen bisher längsten und harten Ultralauf gelaufen. Über 70 Kilometer bei Dauerregen und Dauermatsch (das kannst du hier ausführlich nachlesen “Selbstführung im Härtetest”). Nach 10,5 Stunden war ich im Ziel. Am 6. Januar 2024 hatte ich somit mein Laufhighlight für das Jahr bereits erfahren. Nur drei Tage später schnürte ich wieder die Laufschuhe. Nach drei Wochen definierte ich ein neues Laufziel: Meine noch offene Rechnung mit dem traditionellen Hermannslauf im Teuteburger Wald begleichen – und zwar mit einer für mich sehr ambitionierten Zeit in 2 Stunden 59 Minuten. Ich wollte meinen Hermann laufen und für mich gewinnen und nicht wie in 2022 bezwungen werden, wo ich mich nach 3 Stunden 14 Minuten nach heftigen 31 Kilometern geschlagen gab.
Ein Ziel und zwölf Wochen Laufen nach Plan später hatte ich auch dieses Ziel nach 2 Stunden und 57 Minuten mehr als erreicht und schmiedete direkt Pläne für den Sommer und den Herbst. Laufpause? Ich doch nicht, ich bin doch Ultra-Anke. Auch im Sommerurlaub wollte ich laufen. Natürlich. Ich suchte mir eine leichte Runde zum Einstieg aus. Doch sommerliche Hitze sowie 1000 Höhenmeter auf 16 Kilometer waren für mich als Flachländerin zu viel. Was folgte war eine heftige Sommergrippe. Die zwei restlichen Urlaubswochen war ich krank. Eine Folge von läuferischen Selbstüberschätzung war meines Erachtens der letzte Tropfen, der das Fass mit Dauerstress in den Wochen vor dem Urlaub zum Überlaufen brachte. „Wenn wir im Urlaub krank werden, ist das ein typisches Zeichen, dass zu viel Stress im Körper ist.“ – das erläutere ich Workshops zur Selbstführung. Nun musste ich mich an die eigene Nase fassen.
Mein Körper schrie nach Ruhe und Schlafen. Mein Kopf analysierte und akzeptierte es …. nicht. Sondern ärgerte sich, dass ich krank war. Nach sechs Wochen war ich endlich wieder gesund und hatte direkt den nächsten Halbmarathon im Blick, als erstes Ziel und Formcheck auf dem Weg zum nächsten Ultra-Lauf-Abenteuer.
Autsch!
Die Freude war groß: endlich läuft es wieder! Voller Euphorie starte ich durch. Die ersten ernsten Tempoeinheiten musste ich mich bremsen und bin dennoch zu schnell / schneller als der Plan vom Coach vorgibt. Ich freue mich wie verrückt und denke ich bin in Topform. Vernachlässige das Dehnen, Mobilisieren und auch das Krafttraining. Das brauche ich doch für eine Halbmarathonvorbereitung nicht. Ich bin doch Ultra-Anke. Zehn Tage später vertrete ich mich. Es zieht sofort ein stechender Schmerz ins Knie. Ich spüre: oh, das ist ernster. Dennoch geht der Schmerz wieder weg und ich laufe eine Stunde mit meinem Lauftreff weiter. Nach der anschließenden Dusche geht nur noch wenig. Am nächsten Tag humple ich. Zwei Tage später will ich den Schmerz herauslaufen. Der Schmerz zwingt mich jedoch noch tiefer in die Knie. Bald danach folgt die Diagnose des Orthopäden: Meniskusanriss plus X (verletzte Kapsel, Bänder, Sehnen). Bei der Aussage „mindestens zwei Wochen Laufpause“ spielt sich ein Drama in meinem kleinen sportlichen Köpfchen ab.
Nach zwei Wochen bin ich froh, dass ich 20 Minuten schmerzfrei spazieren gehen kann. Mein Kopf akzeptiert das schwer und betätigt die alten Muster: Voller Ehrgeiz mache ich dann halt das, was geht! Krafttraining und Radfahren. Doch auch damit wird es nicht besser. Ich bin genervt, traurig und letztlich wütend auf mich selbst. Ich höre mir selbst und meinen Gedanken sowie Gefühlen zu: Was denke ich denn da alles? Irgendwann finde ich es absurd, so viel ins Laufen hineinzuprojizieren. Und schaffe es immer mehr, diese Gedanken und Gefühle „einfach“ als solche anzunehmen.
Was im Weg ist, ist der Weg.
Zugleich lasse ich los. Wenn es alles nicht hilft, was ich bisher gemacht habe, muss ich halt das machen, was ich gerade vermeide. Ganz nach dem Motto: Was im Weg ist, ist der Weg. Die eigene Transformationsschwelle überschreiten (hier gibt es einen ausführlichen Blogpost zum Konzept der Transformationsschwelle). Also nichts tun. Ausruhen. Regenieren. Weniger Krafttraining, nur ein Minimalprogramm. Bewusst das Knie entlasten. Meine Anmeldung für den nächsten Ultralauf zurückziehen. Und auf einmal schaffe ich es, meinem Körper, meinem Knie immer besser zuzuhören. Akzeptiere den Schmerz, akzeptiere die Grenze, die es mir zeigt. Und die zeigt mir mein Körper ziemlich oft, wenn ich ihm zuhöre.
Meine innere Haltung ändern
Was sich ändert, ist meine innere Haltung meinem Körper gegenüber. Die Wochen seit der Diagnose Meniskusriss waren ein kopfgesteuertes „das will ich ganz schnell hinter mir lassen, ich tue alles dafür“. Nun wird es immer mehr ein Einlassen und Akzeptieren. Beim Marathon- und Ultralaufen liebe ich es, dass ich nicht weiß, was auf mich zukommt und dennoch mit Vertrauen in den Prozess gehe und Schritt für Schritt weiterlaufe. Diese offene, optimistische Laufhaltung übertrage ich nun auf den Heilungsprozess: Ich akzeptiere den Prozess der Heilung – statt ihn beschleunigen zu wollen. Ich genieße die Laufpause – statt sie zu hassen.
Gleichzeitig bin ich traurig, dass ich bei vielen Volksläufen nicht mit dabei bin. Ich vermisse die Lauf-Community, ich vermisse vor allen Dingen die mentalen und emotionalen Aspekte, die mir das Laufen geben. Gleichzeitig sehe ich, was mein Körper in den letzten Jahren geleistet hat – ohne viele Pausen. All das akzeptiere ich wohlwollend – meine Traurigkeit, meine Ungeduld. Und kann auch über mich selbst mit all diesen Gedanken und Gefühlen lachen, ich kleine Lauf-Drama-Queen.
Im Nichtstun tut sich was
Ich fahre in den Herbsturlaub ohne Laufsachen – seit mindestens 20 Jahren das erste Mal. Auf Nachfragen von Lauffreunden, wann ich denn wieder laufe, antworte ich anfangs „Ich hoffe in zwei Wochen.“ Dann irgendwann nur noch „Dann, wenn es soweit ist, ich weiß es gerade nicht… vielleicht nächstes Jahr, bei irgendeinem Bambini-Lauf, ich schaue Schritt für Schritt.“ So verabschiede ich mich auch von meinem Physiotherapeuten und Laufcoach: ich bin erst mal weg, ich mach erst mal nichts und dann sehen wir weiter.
Und dieses Nichtstun ist die reinste Freude. Ich lasse mich komplett auf dieses Nichts ein. Kein Internet, kein iPhone, kein TV und keine Uhr. Einfach nur nach Gefühl den Tag gestalten. Sich ein wenig an der Sonne und den Hungergefühlen orientieren. Verdammt ungewohnt und richtig gut. Mein Körper bedankt sich mit nachlassenden Schmerzen, Lust am Spazierengehen und klarem Einfordern von Pausen. Aber auch mit einem kleinen Comeback. Am Ende des Urlaubs ist es dann soweit: meine ersten Laufschritte am Strand, nur fünf Meter. Wie fühlt es sich an? Was macht das Knie damit? Es geht, es läuft, zumindest für zehn Schritte. Ein paar Tage später der nächste Versuch. Ich fühle mich einfach gut. Also nur Mut. Eine Minute ganz langsam traben, einfach mal schauen. Auch das – es läuft!
Langsam laufen lernen.
Ein paar Tage später gibt der Physio nach ein paar Muskel- und Sprungtests grünes Licht. Ich darf sieben Minuten am Stück laufen. Und wenn das gut geht, zwei drei Tage später zweimal sieben Minuten mit einer kurzen Pause dazwischen. Das geht, ich laufe wieder! Obwohl ich mir irre schnell vorkomme, zeigt die Uhr ein Schneckentempo an. Egal. Ich bin für jede Minute in Laufschuhen und Laufsachen dankbar. Bei der Physiotherapie lerne ich, spezielle Muskeln anzusteuern, die das Knie schützen. Ich bekomme den Hinweis mit „Fühl in dein Knie rein. Wenn es auf einer Schmerzskala 4/10 ist, hörst du auf.“ So weit kommt es nicht. Anfangs ist es 1-2, nach wenigen Minuten nur noch 1. Das ist in Ordnung. Es ist jetzt vielmehr der Kopf, der unsicher ist: Hält mein Knie? Kann ich es belasten? Mache ich zu viel, zu wenig? Richtig, falsch? Viele Fragen, die letztlich nur ich in engem Kontakt mit Mrs. Knie diskutiere und auf die Antworten höre.
Entscheidend ist nicht das Training, sondern die Regeneration.
Und ich lerne vor allen Dingen immer wieder bei der Physio „Die Regeneration ist entscheidend. Du musst deinem Körper Pausen geben, auch jetzt zwischen den Einheiten. Dann wirst du nichts kaputt machen. Und dem Körper ist es egal, was für ein Stress er hat. Stress ist Stress. Auch psychischer Stress geht ins Knie.“ All dies ist mir bekannt. „There is no overtraining, there is just underrecovery.“ ist eines meiner Lieblingsprinzipien aus einem Ultrarunning-Laufbuch.
Und wieder einmal: Wissen ist nicht Können. Wie gut bin ich wirklich im Regenerieren? Wie gut bin ich im Akzeptieren? Wenn ich von meinem Laufcoach höre „mit einem gewissen Alter geht es nicht mehr um die letzten Sekunden bei den schnellen Laufeinheiten, sondern um eine ausgewogene Bilanz zwischen Belastung und Regeneration“ frage ich mich im ersten Moment, ob er ernsthaft meine Altersklasse meint? Ich will das nicht hören, schließlich fühle ich mich psychisch deutlich jünger als ich es tatsächlich bin.
Der Plan: einen Plan haben.
Um mich vor mir selbst zu schützen, lasse ich mir einen Lauf-Wiedereinstiegsplan erstellen. Dieser sieht eine langsame Steigerung des Laufumfangs vor. Dreimal die Woche laufen, der „lange Lauf“ ist anfangs nur 5 Kilometer lang und steigert sich dann auf 10 Kilometer als krönenden Abschluss. Beim Anblick der Laufumfänge und Geschwindigkeiten werde ich ungeduldig. Was? Soooo langsam? Sooo wenig? Michael, mein Laufcoach, erinnert mich daraufhin, dass es ein therapeutischer Aufbauplan ist, kein Trainingsplan wie ich ihn bisher hatte. Das ganze System muss sich nach drei Monaten Pause wieder an das Laufen gewöhnen.
Zu schnell. Zurück auf Start. Wissen ist nicht Können.
Na gut. Genau deshalb wollte ich ja den Plan, um gesund wieder einzusteigen, statt zu viel und zu schnell zu laufen. Die ersten zwei Wochen sind Kopf und Körper beieinander. Das vorgegebene, langsame Tempo erreiche ich gerade so. Mein Körper als Gesamtsystem zeigt sehr deutlich, dass er noch braucht, um sich wieder an’s Laufen zu gewöhnen. Darauf die Woche läuft es schon viel besser. So lasse ich es bewusst auch mal laufen ohne auf die Geschwindigkeit zu schauen und mich zu bremsen. Und bekomme direkt die Quittung.
Wadenzerrung im „Knie-Bein“. Ein deutliches Zeichen, dass die Wade das Knie schützen wollte. Wieder zwei Wochen Laufpause. Na gut. Dann ist es so. Wer nicht hören will, muss fühlen. Mittlerweile kann ich über mich selbst lachen. Ich dachte ich hätte es verstanden, wohl noch nicht. Der innere Weg geht nun schneller. Den Körper ernst nehmen, das Ausruhen ernst nehmen. Ziele loslassen. Nicht einfach loslaufen, sondern lange langsam aufwärmen. Dehnen und kräftigen. Mit Hingabe und echter Aufmerksamkeit statt nur nebenbei.
Comeback stronger? Nein.
Vorsichtig steige ich Anfang Dezember wieder ein. Ein „Walk, Run & Talk“ mit der Wade und dem Gefühl, dass wird wieder. Und es fühlt sich tatsächlich mit jeder Laufeinheit besser als zuvor an. Nach zwei weiteren Wochen bin ich wieder im Plan, laufe mit Kopf, Knie und Körper. Erhole mich bewusst und gerne. Schneller als nach der Wadenzerrung gedacht laufe ich 10 Kilometer und freue mich einfach nur, dass ich diesen Meilenstein nach der Verletzung erreicht habe. Seit dem steigere ich nun wieder munter meine Strecken. Am Sonntag bin ich das erste Mal wieder über 20 Kilometer gelaufen, ohne Probleme und mit einem großen Lächeln. Meine Ehemann auf dem Begleitfahrrad kommentierte „du läufst wieder wie ein Uhrwerk“. Und im Lauftreff freuen sie sich, dass ich wieder in alter „Metronom“-Qualität dabei bin. Sie läuft, und läuft, und läuft.
„Comeback stronger“ ist der Slogan der Laufuhrmarke, die ich nutze. Ich weiß nicht, ob ich stärker geworden bin oder ob ich diesen Slogan gut finde. Er ist mir zu ehrgeizig, zu leistungsorientiert. Comeback bedeutet übersetzt eine Rückkehr. Hinsichtlich der Distanz bin ich zurückgekehrt. Und ja, ich habe auch bereits wieder neue Ziele im Blick – also kehre ich auf eine Weise zu meinem Antrieb zurück. Doch ich kehre hoffentlich nicht zu meiner inneren Haltung zurück, dass Regeneration ein lästiges Übel ist. Ich kehre hoffentlich nicht zu meinem Glaubenssatz zurück, dass viel Input viel Output bedeutet bzw. nur Laufen dem Laufen hilft.
Besser: Den Prozess akzeptieren und genießen.
Ich weiß nicht, ob ich es jetzt wirklich gelernt habe und verinnerlicht habe. Ob ich jetzt davor bzw. vor mir selbst und meinen Ansprüchen geschützt bin. Oder ob es irgendwann wieder eine Verletzung gibt. Doch ich bin wieder etwas besser darin geworden, den Lauf der Dinge zu akzeptieren. Meinen Körper, meinen Ehrgeiz, mein „über’s Knie brechen wollen“ statt auf meinen Körper zu hören.
So habe ich mir selbst das Motto „den Prozess akzeptieren und genießen“ gegeben bzw. aus dem Buch „Out and Back“ von Hillary Allen übernommen. Das ist für mich stimmiger und offener. Damit einher geht für mich ebenfalls, Zeiten der Regeneration zu akzeptieren und zu genießen. Und auch bewusst einzuplanen. In der heutigen Zeit wichtiger denn je. Pausen einplanen. Stille zulassen und genießen. Langsam machen. Oder zumindest langsamer. Und vor allen Dingen: Dem Körper zuhören. Offen. Mit echtem Interesse.
Liebe Anke du hast so ein großes Talent ein Ereignis zu beschreiben. Ich bewundere dich dafür sehr.
Ganz lieben Gruß Thomas
Danke dir lieber Thomas für dein Feedback. Und ich bewundere dich dafür, wie du durch dein Leben läufst – mit und trotz “allem” … wir sehen uns laufend! Liebe Grüße zurück!